Ich diskutierte vor einigen Tagen mit einem Kollegen über einen Patienten. Die Frage war zugegeben schwierig.

Der alte Herr war schon länger bei uns im Haus, wegen einer Aortitis war er gefäßchirurgisch behandelt worden. Vor zwei Tagen hatte er als Komplikation einer Pleurapunktion einen Hämatothorax erlitten, der drainiert wurde. Seit acht Tagen wurde er mit Imipenem behandelt, ich erinnere mich nicht mehr aus welchem Grund. Nun war er seit gestern deutlich mit dem CRP auf über 200 mg/l angestiegen. Er hatte keine Beschwerden, fühlte sich wohl, keine Schmerzen, kein Fieber.

Wir diskutierten jetzt darüber, ob und wie er antibiotisch behandelt werden sollte. Nach Imipenem, ohne klaren Fokus und bei unbekanntem Erreger wird das schwierig. Nach einigem Überlegen machte ich mich dafür stark, Imipenem abzusetzen, abzuwarten, am nächsten Tag Keimdiagnostik aus Blutkultur, Pleuraerguss, Urin usw. zu machen und sich ansonsten von der klinischen Entwicklung leiten zu lassen.

Der Kollege fand das nicht ausreichend, immerhin hatte der Patient einen Fremdkörper (Bülaudrainage) im Leib, möglicherweise noch restliche Koagel in der Pleurahöhle, hatte vor einer Weile einen fraglichen paraaortalen Abszess drainiert bekommen, war mit seiner Niereninsuffizienz abwehrgeschwächt und hatte damit ein hohes Risiko für eine Infektion.

Ich versuchte, dagegen mit harten EBM-Argumenten anzugehen. Wir hatten keinen Infektfokus, keinen Keimnachweis, ja noch nicht einmal den Nachweis eines Infekts, der einzige Anhaltspunkt war das CRP als Entzündungsparameter. Klinisch ging es dem Patienten gut, sodass uns auch die Klinik nicht zum Handeln drängt. Bei Licht betrachtet wäre also eine Antibiose in diesem Fall evtl. gar keine Therapie sondern eine Prophylaxe einer noch nicht vorhandenen Infektion. Und alles, was wir an Studien zur Antibiotikaprophylaxe (außerhalb des perioperativen Settings) kennen, ist ja sehr ernüchternd.

Der Kollege wand sich etwas und musste mir irgendwie recht geben. Und dann sagte er den interessanten Satz: "Aber mein Gefühl drängt mich ja schon, ihm eine Antibiose zu geben."

Als ich darauf hin sagte, dass eine Therapie nach Gefühl ja nicht so zeitgemäß ist, konnte er nicht mehr widersprechen und die Diskussion war beendet.

Das Gespräch beschäftigte mich noch eine Weile. Wir behandeln sehr häufig nach Gefühl. Keiner von uns hat immer die relevanten Leitlinien im Kopf. Gerade in komplexen, unübersichtlichen Situationen sind wir darauf angewiesen, auf unsere Erfahrung, unsere Intuition zu vertrauen.

Aber unsere Intuition kann uns auch grob irreführen. Intuitiv scheint es richtig, Infarktpatienten mit ventrikulären Arrhythmien antiarrhythmisch zu behandeln. Die CAST-Studie hat uns eines Besseren belehrt. Intuitiv scheint es gut, anämischen Patienten großzügig Blutkonserven zu geben; verschiedene Studien zu verschiedenen Situationen legen aber nahe, mit Blutkonserven sparsam umzugehen und mäßige Anämien hinzunehmen.

Der Gegenentwurf dazu ist die Evidenzbasierte Medizin (EBM). Sie ist der Versuch, die vorhandene, wissenschaftliche Evidenz für die tägliche Arbeit nutzbar zu machen. Das ist natürlich ein hehres Ziel, aber auch ziemlich anstrengend. Wenn ich vor jeder Entscheidung die zuständige(n) Leitlinie(n) lesen will, kriege ich meine Arbeit nicht geschafft.

Die gebahnten Reflexe, das intuitive Reagieren auf bestimmte klinische Situationen halten uns arbeitsfähig. Sie unterscheiden auch die erfahrene Ärztin von einem Anfänger mit viel angelesenem Wissen. Dazu kommt, dass wissenschaftliche Studien immer nur sehr genau definierte diagnostische oder therapeutische Situationen beleuchten. Die ärztliche Erfahrung ist nötig, um dieses Wissen auf spezifische Situationen realer Patienten anzuwenden.

Dazu kommt, dass das medizinische Wissen exponentiell zunimmt. Es ist aussichtslos, als praktisch tätiger Arzt auch nur zu versuchen, dem auch nur für ein Fachgebiet wirklich hinterher zu kommen. Man kann durch Fortbildungen auf dem Laufenden bleiben, und trotzdem wird man ständig auf Fragen stoßen, die man "nach Gefühl" entscheidet, weil einem eine bessere Grundlage fehlt.

Gibt es einen Ausweg aus diesem Zwiespalt? Wahrscheinlich nicht. Einerseits versuche ich klinische Erfahrung aufzubauen, Zusammenhänge zu erkennen, ein Gefühl für klinische Situationen zu entwickeln. Andererseits bin ich misstrauisch dieser "klinischen Erfahrung" gegenüber, die lange Jahre die Begründung für Aderlässe, Antibiotikaprophylaxen, Pancreatitis-Operationen und unkritische Stentimplantationen war.

Wir brauchen die ärztliche Erfahrung, um Standardsituationen effizient abarbeiten zu können. Die evidenzbasierte Medizin kann uns lehren, unsere Standards an neue Erkenntnisse anzupassen. Und in unklaren, schwierigen, für den Patienten relevanten Fragen ist es auch sinnvoll, Zeit für Literaturstudium aufzuwenden.