Ihr dürft nicht alles glauben, was man Euch erzählt. Die Menschen mögen gutwillig sein, sie mögen klug sein, trotzdem stimmt nicht alles, was sie Euch sagen.

Erst recht dürft Ihr nicht glauben, was eine Maschine Euch sagt. Das kann alles stimmen, muss es aber nicht. Der Monitor sagt „Asystolie“ oder „VT“ - schaut nach, ob es stimmt, bevor Ihr reanimiert. Die Sauerstoffsättigung ist bei 80%, guckt ob der Sensor überhaupt auf dem Finger ist. Der Hb ist 3 Punkte schlechter als gestern - war es wirklich das Blut vom richtigen Patienten?

Den Patienten sollte man meistens glauben. Sie stellen Dir ihre Sicht der Dinge dar und wollen Dich meistens nicht hinters Licht führen. Das heißt nicht, dass - auch bei ehrlichen Patienten - alles so stimmt und sich so zugetragen hat, wie Dein Patient Dir das erzählt. Aber es ist seine Sichtweise und damit erzählt es Dir etwas über Deinen Patienten - auch wenn die Fakten vielleicht von anderen anders gesehen werden.

Deinen Oberärzten sollst Du natürlich glauben. Das verlangen sie jedenfalls. Ich habe damals meinen Oberärzten nicht alles geglaubt. Wenn sie gesagt haben „Das muss man so machen“ oder „Dieses Medikament hat jenen Vor-/Nachteil“, dann habe ich mich danach gerichtet. Aber geglaubt habe ich es erst, wenn ich es in meinen Lehrbüchern nachgelesen habe.

Was in den Lehrbüchern steht, habe ich geglaubt. Aber heute bin ich auch da vorsichtig geworden. Zu oft mussten die Lehrbücher umgeschrieben werden. Zu oft habe ich Lehrmeinungen gefunden, die schon lange von existierenden Daten widerlegt worden waren. Heute frage ich mich: „Ist das evidenzbasiert? Gibt es dazu Daten oder ist das nur Lehrmeinung?“ Viele Einsichten und Sichtweisen entstammen aus Erfahrungen und Meinungen unserer Vorgänger. Und auch wenn es empirische Forschung gibt, kann es passieren, dass neue Erkenntnisse unsere Sichtweise ändern. Es gibt gefälschte Forschung. Und es gibt auch ganz normale Fehler in wissenschaftlichen Studien. Vor kurzem haben schwedische Forscher die Analysemethoden einer viel genutzten Software zur Auswertung von funktioneller Magnetresonanztomographie als fehlerhaft erkannt. Und das ist nicht irgendeine obskure Untersuchungmethode sondern das Arbeitspferd der ganzen, modernen Neurowissenschaften. So werden auf einen Schlag die Ergebnisse von 40.000 Studien in Frage gestellt.

Die Medizin ist ja meist keine exakte Wissenschaft wie die Mathematik oder die Physik. Dort haben wir solide Erkenntnisse, die bewiesen sind und auf die wir bauen können. Aber selbst in der Physik finden wir etablierte Lehrmeinungen, die seit Jahrzehnten in den Lehrbüchern stehen und trotzdem sich als falsch herausstellen. Ihr kennt den Faraday’schen Käfig, den Effekt, dass Metallgitter elektrische Felder komplett abschirmen können. Michael Faraday hat 1836 diesen Effekt beschrieben und der geniale Physiker Richard Feynman hat 1940 eine mathematische Beschreibung gefunden, die seit über 50 Jahren auch so in den Lehrbüchern steht. Aber vor ein paar Wochen fand ein Mathematiker heraus, dass Feynman’s Berechnungen zwar formal korrekt sind, aber das falsche Problem berechnen. Das führt u.a. dazu, dass unter bestimmten Bedingungen die Abschirmung viel schlechter ist, als von der bisherigen Theorie vorhergesagt. Hoffentlich haben sich die Hersteller meines Mikrowellenherds nicht nach der Theorie gerichtet, sondern nachgemessen.

Aber wenn man sich noch nicht einmal auf das gut abgehangene Wissen einer exakten Wissenschaft wie der Physik verlassen kann, wie soll man dann arbeiten? Worauf kann man sich denn überhaupt noch verlassen? Ich weiß auch heute noch keine bessere Lösung für dieses Problem als früher. Ich richte mich nach dem, was ich als aktuelles, verlässlich erscheinendes Wissen kenne. Das ist die vorläufig beste Basis, auf der ich arbeiten kann. Auch wenn mein heutiger Wissensstand nicht 100% verlässlich ist, ist es doch das einzige worauf ich mich stützen kann. Die Alternative wäre, gar nichts zu tun, sich für nichts zu entscheiden, weil man vielleicht ja auch falsch liegen könnte. Das ist keine Alternative, denn viel wahrscheinlicher ist ja, dass mein heutiges Wissen auch morgen noch einigermaßen stimmt. Und ich will nicht die Gelegenheit verpassen, das zu tun, was heute sinnvoll scheint.

Aber ich bin mir nie ganz sicher, ich habe immer den kleinen Zweifel im Hinterkopf, der mich an die Möglichkeit denken lässt, dass vielleicht alles noch anders ist, als wir bisher gedacht haben. Vielleicht hört sich das jetzt sehr anstrengend und verunsichernd an. Aber das muss es nicht sein. Macht Euren Frieden mit der Einsicht, dass all unser sicher geglaubtes Wissen vorläufig ist, dass wir vielleicht morgen schon wieder dazu lernen. Deshalb ist es trotzdem noch richtig, so zu leben und zu handeln, wie wir es heute für richtig halten. Aber wir müssen nicht an unseren Meinungen festhalten, wenn sie morgen in Frage gestellt werden. Wenn unser altes Wissen gut ist, wird es sich auch morgen noch bewähren. Aber wenn nicht, dann habt keine Hemmungen, alte, lieb gewonnene Ideen über Bord zu werfen und neues, besseres Wissen aufzugreifen.

In meiner täglichen Arbeit muss ich ständig meine sicher geglaubte Meinung revidieren. Ich nehme einen Patienten auf, untersuche ihn, finde eine Diagnose und behandele entsprechend. Dann bekomme ich ein Testergebnis, das meine ganze Theorie über den Haufen wirft und ich finde eine neue Arbeitsdiagnose. Und morgen erzählt mir ein Angehöriger, was mein Patient wirklich hat und wie das bisher behandelt wurde.

Legt keinen Stolz in Euer Wissen, Eure Erkenntnisse, Diagnosen und Theorien, dafür sind sie zu vorläufig. Legt Euren Stolz darein, Eure Theorien bereitwillig über den Haufen zu werfen, wenn sie nicht mehr zu den (neuen) Fakten passen.