Bei meiner Arbeit versuche ich, einigermaßen auf dem aktuellen Stand der Medizin zu bleiben. Das bedeutet aber immer wieder, dass ich Dinge nicht so mache, wie man es bisher gewohnt ist. Das führt schon mal zu Diskussionen.

Vor einiger Zeit diskutierte ich mit einer Intensivschwester, die ich sehr schätze, über Beatmung. Ich erklärte, warum das mit den 6 ml/kg so wichtig ist, dass ein niedriger FiO2 manchmal besser ist als eine hohe Sättigung, und dass man diese Erkenntnisse aus großen Studien gezogen hat. Und dann sagte sie diesen Satz, der mich noch lange beschäftigt hat: "Und was ist mit der langjährigen Erfahrung derer, die hier arbeiten? Ist die gar nichts wert?"

Ich sollte vielleicht direkt klarstellen, dass ich eine hohe Meinung von der fachlichen Kompetenz der meisten Intensivschwestern und -pfleger habe. Das sind in der Regel Leute, die aus eigenem Antrieb und mit hohem Engagement eine Zusatzweiterbildung absolviert haben, die neben vielen praktischen Kompetenzen auch eine Menge theoretischer Inhalte vermittelt. Darüber hinaus haben viele in langjähriger Erfahrung Fähigkeiten angesammelt, die man in dieser Form nirgends gelehrt bekommt.

Studien?

Gerade von solchen erfahrenen Leuten höre ich oft eine erhebliche Skepsis gegenüber wissenschaftlichen Studien. Die Studien seien von der Pharmaindustrie gesteuert oder von anderen Interessen geleitet, gelten vielleicht für die Patienten von Unikliniken, sind aber auf unsere Patienten nicht anwendbar usw.

Zugegeben: nicht alles, was zuerst mit großem Enthusiasmus bejubelt wird, bestätigt sich auch so in späteren Studien. Es gab nicht nur zweifelhafte Ergebnisse, sondern auch echten wissenschaftlichen Betrug. Für Skepsis gegenüber Studienergebnissen gibt es also mehr als genug Anlass. Aber mit dem Erfahrungswissen sieht es leider nicht besser aus.

Erfahrung??

Eigene Erfahrung entsteht immer nur an einer relativ kleinen Zahl von Patienten mit einem bestimmten Problem. Dazu werden diese persönlichen Erfahrungen nicht sauber evaluiert. Man behandelt Patienten, hat dabei Erfolg oder nicht, zieht aus diesen Ergebnissen Schlüsse oder nicht, überprüft diese Schlussfolgerungen oder nicht, und hat später mehr Erfolg oder nicht und registriert diese Veränderung oder auch nicht.

Das sogenannte Erfahrungswissen ist auch nicht immer eigene Erfahrung, den dieses Wissen wird ja auch weitergegeben. Die Schwester, von der am Anfang die Rede war, war zwar engagiert und kompetent aber nicht eigentlich erfahren (sie war erst wenige Jahre im Beruf, inzwischen studiert sie Medizin). D.h. Erfahrung ist oft ein anderes Wort für Tradition. Die Erfahrung und die Überzeugungen der Altvorderen werden z.T. ungeprüft in den eigenen Erfahrungs- und Überzeugungsschatz integriert. Das was man im Studium oder der Ausbildung gelernt hat, hat man über Jahre angewandt und es fiel nicht offensichtlich als falsch auf. Man hat "gute Erfahrungen" damit gemacht.

Erfahrung kann durchaus irreführen. Unsere Kollegen des vorletzten Jahrhunderts haben mit großer Überzeugung für alles Mögliche Aderlässe durchgeführt und waren bestimmt der Meinung, ihren Patienten damit zu helfen. Bis in die heutige Zeit verwenden wir Adrenalin bei der Reanimation, jetzt stellt sich heraus, dass das evtl. gar nichts bringt.

Seit man begonnen hat, auch die einfachsten Behauptungen zu beweisen, erwiesen sich viele von ihnen als falsch.

Bertrand Russell, Mathematiker

In der Art durch die Wissenschaft korrigiert zu werden, kann gerade für erfahrene Leute eine erhebliche Kränkung bedeuten. Erfahrung ist etwas, was man sich in langen Jahren erarbeitet hat, und was einen gegenüber den jungen Kollegen in gewissen Sinne unangreifbar macht. "Klinische Erfahrung" ist in der Diskussion bei der Visite ein Argument, das man kaum toppen kann. So kann ich auch den fast beleidigten Unterton verstehen ("ist das denn gar nichts wert?"), mit dem die Erfahrung hier ins Spiel gebracht wurde.

Ich weiß nicht mehr, was ich darauf dann geantwortet habe. Denn ich will ja sicher nicht die Berufserfahrung und das in langen Jahren erarbeitete Wissen unserer Mitarbeiter schlecht machen. Aber ich kann auch nicht ausblenden, wie skeptisch ich selbst immer schon den Ansichten und Lehren meiner Professoren und Vorgesetzten, aber auch meiner eigenen, beschränkten Erfahrung gegenüber war.

Evidence based medicine

Eine Studie mit 1000 Probanden, die strukturiert evaluiert wurde, ist für mich immer überzeugender als die Meinung eines älteren Kollegen, der das Problem schon 50 oder 500 mal gesehen und dann so behandelt hat, wie seine Vorgesetzten und Lehrer es gelehrt haben. Dass man etwas seit 20 Jahren so macht, ist für mich kein Argument mehr, seitdem ich verstanden habe, dass man etwas auch 20 Jahre falsch machen kann, ohne das zu merken.

It doesn't matter how beautiful your theory is, it doesn't matter how smart you are. If it doesn't agree with experiment, it's wrong.

Richard Feynman, Physiker

Aus Erfahrung Wissen abzuleiten ist etwas, was wir jeden Tag machen. Aber mit randomisierten Studien haben wir ein Tool, das die Fallstricke und Fehlermöglichkeiten der unstrukturierten Erfahrung umgeht.

Und jetzt?

Ist also Erfahrung wirklich nichts mehr wert? Das wäre sicher genauso falsch, wie ein bedingungsloser Glaube an die Tradition.

Erfahrung hilft uns, alltägliche Standardsituationen routiniert und effizient abzuarbeiten. Das weiß jeder, der als neuer Arzt auf einer Station anfängt und dann — im günstigen Fall — von einer erfahrenen Kollegin oder dem Stationspfleger eine Fülle an praktischen Tips bekommt, die den Arbeitsalltag erleichtern.

Erfahrung gibt uns aber auch Handlungsanleitung in schwierigen, unstrukturierten Situationen. Ich merke das am meisten, wenn junge Kollegen mir unklare Patienten vorstellen. Sie haben bis dahin korrekt ihr erlerntes Wissen angewandt und nach etablierten Algorithmen versucht zu einer Diagnose und einer wirksamen Therapie zu kommen. Und weil sie trotzdem nicht zu einem klaren Bild kamen, fragen sie einen der Erfahrenen. Und dann kann es durchaus vorkommen, dass ich den Patienten nur zu sehen, hören oder gar riechen brauche, um dann auf die Idee zu kommen, die zur richtigen Diagnose und Therapie führt. Ich kann dann in der Regel auch begründen, was mich auf den richtigen Gedanken gebracht hat. Aber ich hätte nicht vorher sagen können, welche Idee bei diesem Patienten weiterführen wird. Wenn man eine ähnliche Situation schon einmal erlebt hat, ist es beim nächsten Mal einfacher auf die richtige Idee zu kommen.

Und nicht zuletzt in der Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Medizin kann die Erfahrung helfen. Denn auch die vielgerühmten wissenschaftlichen Studien können irreführen. Sie können eine wirklichkeitsfremde Fragestellung verfolgen, der Eingeweihte erkennt vielleicht schon am Studiensetting methodische Fehler und der Bias industriefinanzierter Studien ist schon lange kein Geheimnis mehr. Für mich sind Kongresse u.a. auch deshalb interessant, weil dort Studien, die ich oft schon kannte, von kompetenten Leuten in Zusammenhang gestellt und bewertet werden. (Aber auch diesen "Experten" glaube ich nicht unbesehen. Zu deutlich ist bei dem einen oder anderen die Industrienähe zu erkennen.)

Weder klinische Erfahrung noch publizierte Wissenschaft geben uns die reine Wahrheit. Aber wenn wir beide Erkenntnisquellen anzapfen können und das dann auch noch mit den Wünschen und Präferenzen des Patienten in Einklang bringen, dann sind wir auf einem guten Weg. Der ist nicht immer eindeutig und es kann oft mit guten Gründen unterschiedliche Meinungen geben. Aber Wissenschaft gegen Erfahrung auszuspielen oder umgekehrt, wird beiden und auch unseren Patienten nicht gerecht.