Ich wurde von der Chefsekretärin angerufen, ob ich mit einer Angehörigen sprechen könne, sie wollte sich über einen Stationarzt beschweren. Der Chef war nicht da, der zuständige Oberarzt krank, ob ich mich darum kümmern könnte.
Ja, klar, ich komme.

Die Dame war etwa Mitte vierzig, offenbar türkischer Herkunft, aber in Deutschland aufgewachsen, gepflegte, auf ihr Aussehen bedachte Erscheinung, aber auch erkennbar aufgebracht. Ich begrüßte sie freundlich, stellte mich vor, bat lächelnd um Verständnis, dass sie momentan weder den Chef noch den zuständigen Oberarzt sprechen könne und deshalb mit mir vorlieb nehmen müsse. Das entlockte auch ihr eine freundliche Miene, aber ihr Ton blieb bestimmt.

Mit einer allgemein formulierten Frage (etwa "Was ist passiert?" o.ä.) forderte ich sie zum Sprechen auf. Freundlich, aber auch unerbittlich im Ton berichtete sie, dass ihre Mutter Mitte letzter Woche aufgenommen worden sei, und auch da sei schon alles schief gegangen. Sie habe nicht ihre richtigen Medikamente bekommen, die Ärztin habe auch gar nicht nach der Vormedikation gefragt, und erst als sie, die Tochter, die Tabletten am Sonntag mitgebracht habe usw. … Und der Blutdruck sei die ganze Zeit zu hoch gewesen. Und jetzt habe sie endlich mal mit dem Stationsarzt sprechen wollen, aber der habe sie überhaupt nicht beachtet und sie dann kalt und unfreundlich abgebügelt, sie müsse erst warten, bis er Zeit habe usw. usw. Sie sei ja auch Krankenschwester, aber so ein Verhalten habe sie noch nie usw. …

Der Kollege, um den es ging, ist ein sehr erfahrener, fachlich guter, engagierter Mann, er kann aber auch mal etwas harsch rüberkommen. Und wenn er auf eine so anspruchsvolle, von sich selbst überzeugte Angehörige trifft, die ihn zur Unzeit in forderndem Ton anspricht — ich konnte mir schon vorstellen, wie das etwa abgelaufen war.

Ich ließ sie eine Weile reden und versuchte dem Redeschwall die relevanten Fakten zu entnehmen. Irgendwann unterbrach ich sie mit Fragen zum Gesundheitszustand und der Vorgeschichte der Mutter. Ich wollte auch heraus zu bekommen, ob tatsächlich etwas versäumt worden war, oder ob es sich nur um zwischenmenschliche Inkompatibilitäten handelte.

Nach einer Weile versuchte ich selbst wieder die Führung im Gespräch zu übernehmen und das Thema auf die Sachebene zu ziehen. "Jetzt scheint ja die Dyspnoe Ihrer Mutter deutlich besser geworden zu sein. Aber diese Blutdruckwerte dürfen wir natürlich nicht hinnehmen. Ich bin auch nicht sicher, ob die bisherigen Tabletten da ausreichen werden."

Aber sie kam wieder auf den unmöglichen Doktor zu sprechen. Ob sie sich so etwas hier bieten lassen müsse? Ich sagte, "Ich werde auf jeden Fall mit dem Kollegen sprechen, nicht zuletzt auch um seine Seite der Geschichte zu hören, das ist ja nicht mehr als fair. Ich weiß, dass er schon mal etwas kurz angebunden sein kann, aber ich schätze ihn sehr als einen guten Arzt. Was da heute geschehen ist, will ich jetzt nicht beurteilen, ich war ja nicht dabei." (Das schien sie zu akzeptieren.) "Auch was Sie mir jetzt über die Vorerkrankungen gesagt haben, muss er ja wissen. Und wir wollen vor allem, dass Ihre Mutter so gut behandelt wird, wie es ihr zusteht." Da war sie schon etwas ruhiger.

Dann kam mir eine Idee. Ich sagte: "Beim Hypertonus Ihrer Mutter spielt das Übergewicht eine wesentliche Rolle und ich vermute auch, dass sie nicht viel Bewegung hat." Sie stimmte zu. Dann zögerte ich etwas, überlegte, und sagte schließlich: "Ich beobachte das oft, gerade bei älteren Türkinnen, dass sie übergewichtig sind, kaum Bewegung haben und dann alle Folgeerkrankungen entwickeln, die daraus halt so resultieren. Deren Hypertonus und Diabetes bekommen wir kaum vernünftig in den Griff, weil wir die Auslöser nicht adäquat behandeln können. Dieser Personengruppe scheint unser Gesundheitssystem überhaupt nicht gerecht zu werden. Haben Sie eine Idee, woher das kommt?"

Und damit hatte ich sie auf meiner Seite. Von der anklagenden, überbehütenden Angehörigen war sie zur Expertin geworden, deren Rat ich erfrage. Und ich bekam auch noch eine interessante Antwort. (Meine Frage war nämlich durchaus ernst gemeint gewesen, das beschäftigte mich schon länger.) Sie sagte: "Sie haben völlig recht, das ist ganz häufig so. Und das liegt daran, dass diese älteren Türkinnen zu einem hohen Anteil depressiv sind." Natürlich, das hätte ich mir auch denken können! Wenn man die Lebenssituation dieser Frauen betrachtet, erscheint das naheliegend. Ich bedankte mich sehr für diese Erkenntnis und stimmte ihr zu, dass das eine plausible Erklärung ist.

Am Ende gingen wir in sehr freundlichem Ton auseinander. (Dennoch habe ich kein Bedürfnis, so ein Treffen zu wiederholen.)

---*---

Aus mehreren Gründen ist mir die Geschichte im Gedächtnis geblieben.

Du kannst den Ton des Gespräches bestimmen. Diese Dame war gekommen, um sich zu beschweren. Ich wusste das vorher, und hatte schon gleich keine Lust auf dieses Gespräch. Aber ich war entschlossen, mich von dieser unangenehmen Stimmung nicht einfangen zu lassen. Deshalb tauchte ich gut gelaunt und gesprächig im Sekretariat auf, bat die Dame in die Gesprächsecke, stellte mich vor und behandelte sie, als ob sie sich für einen Gebrauchtwagen interessierte oder sich als neue Nachbarin vorstellen wollte. Am liebsten hätte ich ihr auch noch einen Kaffee angeboten.

Als ich ihr dann mit meiner Frage das Wort erteilte, hatte ich die Atmosphäre des Gesprächs vorgegeben. Natürlich trübte die sich dann etwas ein, als sie über die schlimme Behandlung durch den Stationsarzt berichtete. Aber in angenehmer Atmosphäre lassen sich auch unschöne Dinge leichter und konstruktiver besprechen.

Persönliche Vorwürfe sind immer unkonstruktiv. Das wird sofort einsichtig, wenn man überlegt, was man denn konkret erreichen will. Dass der Andere sich entschuldigt? Wohl kaum. Dass der Andere seine Schuld einsieht? Auch das wird wohl in den seltensten Fällen passieren. Und wenn, dann kann er es nicht zugeben, ohne sein Gesicht zu verlieren. Das heißt, im allerbesten Fall kann man mit Vorwürfen erreichen, dass der Andere sein Verhalten überdenkt, aber man sollte nicht erwarten, dass er das zugibt.

Auch Vorwürfe zurückzuweisen ist nicht konstruktiv. Damit kann ich zwar nach außen hin mein Gesicht wahren, aber es wird den Angreifer i.d.R. nicht zu der Einsicht bringen, dass sein Vorwurf unberechtigt ist. (Außer natürlich in den Fällen, wo man durch sachliche Erläuterungen verständlich machen kann, dass das eigene Verhalten richtig war und die Vorwürfe auf einem Irrtum beruhen.)

Das heißt für mich, dass ich nach Möglichkeit nicht darauf eingehe, wenn sich jemand über mich oder andere beschwert. Ich mache deutlich, dass ich es wahrgenommen habe, aber ich versuche, nicht darüber zu diskutieren.

(Ich habe übrigens nachher auch noch mit dem genannten Kollegen gesprochen. Er beschwerte sich im gleichen Tonfall über diese unmögliche Angehörige und machte klar, dass er von ihr eine Entschuldigung erwartet. Ich bat ihn, im Sinne einer professionellen Kommunikation und seiner Magenschleimhaut diese unerfreuliche Episode nicht mehr zu erwähnen.)

Du kannst Vorwürfe auch einfach ignorieren. Es gibt praktisch immer ein Ziel, das beiden Konfliktparteien gemeinsam ist (z.B. die gute Behandlung der Mutter). Ich habe gute Erfahrungen damit gemacht, persönliche Anwürfe hart zu ignorieren und nur über das gemeinsame Ziel und den Weg dorthin zu sprechen. Beispiel:

"So einen unfreundlichen Arzt habe ich noch nie erlebt und ich erwarte von Ihnen, dass Sie daraus Konsequenzen ziehen!"

"Hat Ihre Mutter die Blutdruckmedikamente denn bisher gut vertragen? Wissen Sie, ob sie sie regelmäßig einnimmt?"

Das wirkt hier vielleicht ziemlich plump. Überhaupt nicht auf die Vorwürfe der Dame einzugehen, kann auch als Affront aufgefasst werden. Andererseits könnt Ihr es oft beoachten, wie Leute in dieser Art aneinander vorbei reden. Jeder der Gesprächspartner redet über das, was ihn gerade am meisten beschäftigt, und das können schon mal unterschiedliche Dinge sein. (Viele Comedy-Szenen über alte Ehepaare funktionieren so.)

Das geht aber nicht von Anfang an. Einmal muss man schon auf das Ansinnen des Anderen eingehen, und sei es nur, indem man deutlich macht, dass man es verstanden hat. Aber wenn man auf immer neu wiederholte Vorwürfe nicht jedes Mal spezifisch eingeht, wird das meist nicht als unüblich empfunden. Wenn Ihr Euch dann nicht von der Konfrontation einfangen lasst, habt Ihr dann die Chance, das Gespräch auf ein konstruktives Gleis zu bringen.

Selbst so ein unangenehmes Gespräch kann noch ein interessantes Ergebnis bringen. Weil ich nicht in dem Konfrontationsmuster blieb, das die Angehörige vorgeben wollte, konnte mitten im Gespräch das Thema wechseln und ihren Rat als "Expertin für türkische Frauen" erfragen. So habe ich nicht nur eine Antwort auf eine Frage gefunden, die mich schon länger beschäftigte. So hat auch das ganze Gespräch eine viel positivere Richtung genommen.

Ich vermute, die Angehörige ist aus dem Gespräch nicht mit dem Gefühl hinaus gegangen, dass sie den Ärzten im Krankenhaus mal richtig die Meinung gesagt hat, sondern dass sie mit ihren Anliegen und ihren Fähigkeiten ernst genommen wurde und die Angelegenheit konstruktiv besprechen konnte. D.h. das Thema des Gesprächs war am Ende nicht mehr der Konflikt, sondern das gemeinsame Interesse an einer möglichst guten Behandlung der Mutter.